SoVi - die inklusive Einkaufs-App #67/2022
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
der heutige Newsletter ist um einiges länger als gewohnt. Das hat seinen Grund. Mit Unterstützung und Beratung durch den Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen e. V. konnte Meike Seidel die App SoVi entwickeln. Diese inklusive App ermöglicht seheingeschränkten Kund*innen nicht nur das Erkennen der Waren im Supermarkt, sondern sie liest auf Wunsch auch die Produktinformationen vor. Die Geschichte der Entwicklung der App und ihre Anwendungsmöglichkeiten auch für Menschen, die das Kleingedruckte interessiert, halten wir für so interessant und spannend, dass wir Ihnen den Bericht von Frau Seidel dazu in voller Länge zur Verfügung stellen:
Wir fliegen zum Mond, schießen Hunde und Autos ins Weltall und steuern unsere heimischen Heizungen per App vom anderen Ende der Welt aus. Aber ein blinder Mensch kann auch im 21. Jahrhundert seine Lebensmittel noch nicht ohne die Hilfe Dritter im Supermarkt einkaufen. Grotesk, oder? Als ich (Meike Seidel) vor einigen Jahren in das Haus einer blinden Lehrerin eingeladen wurde, wusste ich noch nicht, dass dieser Besuch mein Leben verändern würde - und das vieler anderer Menschen. Die Frau lebte in einem wunderschönen Haus, das sie gemeinsam mit einem Architekten nach ihren Bedürfnissen geplant hatte, unterrichtete blinde und mehrfach behinderte Schüler und Schülerinnen an einer Blindenschule und ritt in ihrer Freizeit ihr eigenes Pferd - und das alles mit weniger als 2% Sehkraft. Tief beeindruckt lauschte ich den Erzählungen aus ihrem Leben und musste plötzlich innehalten, als sie ganz beiläufig erwähnte, sie würde niemals freiwillig einen Supermarkt betreten. Dieser Ort sei nicht für sie gemacht, an kaum einem Ort würde sie sich so verloren und fehl am Platz fühlen wie in einem Lebensmittelgeschäft. In den folgenden Wochen und Monaten beschäftigte ich mich intensiv mit der Thematik und überredete die Dame, mich einmal in einen Supermarkt zu begleiten. Ich erfuhr, wie wenig geeignet dieser Ort für sehbehinderte und blinde Menschen ist und beschloss, dieses Problem zu meiner Aufgabe zu machen: Ich will, dass sehbehinderte und blinde Menschen genauso unbeschwert ihr Essen und Trinken einkaufen können, wie Sehende es tagtäglich mit der größten Selbstverständlichkeit tun.
Der erste Schritt: Verpackungen müssen sprechen können. So könnte man zumindest gleiche oder ähnliche Verpackungen wie Konservendosen, Gläser, Becher und Tetra Paks voneinander unterscheiden - auch im eigenen Zuhause. Ich beschloss, dass es sinnvoll wäre, Verpackungen flächendeckend mit einem unsichtbaren Code zu bedrucken, damit kein Mensch mehr den Barcode suchen muss, um ein Produkt zu scannen. Anschließend soll das Smartphone befähigt werden, diesen unsichtbaren, vollflächigen Code zu lesen und die Produktinformationen vorzulesen. Damals, vor einigen Jahren, erschien diese Idee so utopisch, dass kein Geldgeber bereit war zu investieren. Es folgten Jahre der Recherche, Forschung und Entwicklung, die mir und dem Team, das sich mir anschloss, niemand bezahlte. Nach Feierabend und an den Wochenenden saßen wir zusammen und feilten an unserer Idee, traten mit Unternehmen und Netzwerken in Kontakt, stellten unsere Vision auf Veranstaltungen vor und bastelten an unserem ersten Prototypen. Ich gründete eine Firma und nannte sie SonicView, also so viel wie „gehörter Blick“.
Irgendwann bekamen wir unsere erste Förderung und konnten richtig loslegen. Meinen damaligen Job als IT Produktmanagerin, mit dem ich bis dato meine Brötchen verdient hatte, kündigte ich zugunsten meines jungen Startups. Heute liegt unsere App endlich im App Store und im Google PlayStore. Sie heißt SoVi und ist eine inklusive App, die auch über die Bedienungshilfen VoiceOver und TalkBack bedient werden kann. Inklusiv ist sie deshalb, weil sie auch weitere Zielgruppen anspricht: Im Grunde hat kein Mensch Lust, das Kleingedruckte von Verpackungen zu studieren, um an bestimmte Produktinformationen zu gelangen. Deshalb arbeitet die SoVi App mit Ernährungsprofilen, in denen man seine Vorgaben für den eigenen Speiseplan eingibt. Menschen mit Allergien, Unverträglichkeiten oder Diabetes, Vegetarier und Veganer und solche, die bestimmte Ernährungsgewohnheiten verändern möchten, finden mit nur einem Scan heraus, ob ein Artikel zu ihnen passt oder nicht. Diese Ernährungsprofile können untereinander geteilt werden, sodass wir zukünftig auch für unsere Freunde und Familien, Mitbewohner und Partygäste oder in Betreuungssituationen füreinander das Richtige einkaufen können. Für diese Teilen-Funktion ist eine Registrierung in der App notwendig, aber natürlich geben wir keine personenbezogenen Daten weiter oder verwenden sie für andere Zwecke.
Unsere Produktdaten stammen überwiegend aus einem verifizierten Datenpool, bei dem die Hersteller selbst ihre Daten eingeben und für die Richtigkeit sowie ständige Aktualität verantwortlich sind. So können wir die bestmögliche Qualität erreichen. Für Produkte, die hier nicht vorhanden sind, zapfen wir noch einen zweiten Datenpool an, der viele Produkte aus den Reihen der Eigenmarken beinhaltet. Mit dieser Mischung erreichen wir die derzeit beste Balance zwischen Datenqualität und -quantität. Die vollflächige Codierung von Verpackungen, die damals noch undenkbar erschien, schafft es gerade in die ersten deutschen Lebensmittelgeschäfte: Netto hat bereits 5000 Artikel aus den Reihen ihrer Eigenmarken mit dem so genannten DW Code versehen. Dieser Code ist auch für Adleraugen nicht erkennbar, wird aber von der SoVi App gelesen. Wir gehen davon aus, dass zukünftig immer mehr Produkte von weiteren Herstellern diesen Weg gehen, sodass das mühsame Suchen des Barcodes bald hinfällig wird und wir jedes Produkt an jeder beliebigen Stelle scannen können, ohne es auch nur anfassen zu müssen.
In diesen Tagen wagen wir uns nun mit dem ersten Aufschlag unserer Einkaufs-App aus dem stillen Kämmerlein heraus und präsentieren, was wir in den letzten Jahren geschafft haben. Natürlich wollen wir die SoVi App kontinuierlich weiterentwickeln und verbessern, z.B. mehrere Sprachen anbieten, einen Produkt-Katalog unterbringen und unseren Datenpool erweitern.
In diesem Sinne darf sich jeder Mensch eingeladen fühlen, unsere aus Leidenschaft entwickelte SoVi App auf dem eigenen Smartphone zu installieren, fleißig zu scannen und uns mit einem Abo, einer guten Bewertung im Store oder einer Weiterempfehlung zu unterstützen. Wir freuen uns auf alles, was noch kommt und bleiben in jedem Fall am Ball!
Meike Seidel, Hannover
Jochen Bartling
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit