Wahl zur/zum Behindertensportler*in des Jahres
Blindentennis – Freiheit auf dem Platz

Kirstin Linck beim Blindentennis
Suchend tastet Kirstin Linck mit ihrem Tennisschläger über den Boden. So lange, bis sie die taktilen Linien gefunden hat. Hinter der extra für sie installierten Aufschlaglinie, die sich etwas vom Boden abhebt und auch mit den Füßen ertastet werden kann, stellt sie sich auf. Auf den Fußballen wippt sie leicht hin und her und wartet auf das Zuspiel ihrer Trainerin. Der Ball, den diese der 53-Jährigen zuspielt, ist etwas größer und weicher als ein normaler Tennisball und klingelt. Das Spielfeld ist mit 12,80 mal 6,10 Meter halb so groß wie ein normales Tennisfeld. Rein nach Gehör muss nun die Blindentennisspielerin den Ball mit dem Schläger treffen und über das Netz zurückschlagen. Kirstin Linck vom THC Lüneburg beherrscht das so gut, dass sie im Jahr 2022 bei den Norddeutschen Meisterschaften Dritte wurde und bei den Deutschen Meisterschaften sogar die Silbermedaille gewann.
Durch einen Workshop in Köln lernte Kirstin die noch junge Sportart kennen. Seit 2016 gibt es Blindentennis in Deutschland, seit 2019 geht die Sportlerin voll und ganz in dieser neuen Leidenschaft auf.

Kirstin Linck
„Ich wünsche mir, dass bald noch mehr Spielerinnen und Spieler dazukommen, damit die Turniere größer werden und wir mehr Gelegenheit haben, miteinander zu trainieren“, sagt die Lüneburgerin. Deshalb engagiert sie sich nicht nur im Zusammenhang mit dem jährlichen Workshop für die Nachwuchsgewinnung, sondern hat auch schon ein Turnier in Lüneburg organisiert, bei dem Menschen mit und ohne Seheinschränkung einmal zum Schläger greifen durften. Sie lädt auch immer wieder Blinde und Menschen mit Sehbehinderung zu sich nach Lüneburg ein, um gemeinsam zu spielen. „Es ist die Komplexität dieser Sportart, die sie so spannend macht. Und für mich persönlich bedeutet Tennis auch, mich ohne Blindenstock völlig frei auf dem Platz bewegen zu können“, erklärt Kirstin ihre Motivation.
Überhaupt ist Freiheit für die Athletin sehr wichtig. Seit 30 Jahren lebt sie eigenständig, kauft allein ein, kocht und arbeitet Vollzeit als Verwaltungsbeamtin beim Land Niedersachsen. Angefangen hatte sie im Bereich Kunst- und Kulturförderung, kümmerte sich später unter anderem um Gefahrenabwehr, Waffenrecht und öffentliches Namensrecht. Inzwischen ist sie für die Personalverwaltung der Polizei verantwortlich. Acht Semester lang hat Kirstin Jura studiert, um „mehr Entscheidungen treffen zu dürfen“, wie sie sagt. Weil sich jedoch ihre Sehbehinderung verschlechtert hatte, und die um 50 Prozent verlängerten Prüfungszeiten einfach zu anstrengend waren, entschloss sie sich schließlich, das Studium abzubrechen. „Aber die Erfahrung möchte ich auf keinen Fall missen“, sagt sie nachdrücklich.
„Ich wusste gar nicht, wie schlecht ich sehe“
Kirstin ist mit der Augenkrankheit Retinitis pigmentosa zur Welt gekommen, bei der mehr und mehr blinde Flecken im Sichtfeld entstehen. Aber erst im Alter von etwa drei Jahren diagnostizierten die Ärzte diese Krankheit. Sie schreitet bis zur Erblindung fort und ist unheilbar. „Viele Jahre wusste ich gar nicht, wie schlecht ich sehen kann. Zu Hause herrschte eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit dieser Krankheit, so dass wir gar nicht viel darüber gesprochen haben“, erinnert sich Kirstin. Bis zum Alter von 16 Jahren ist sie sogar noch Fahrrad gefahren. „Bis meine Mutter das nicht mehr ertragen hat“, sagt sie schmunzelnd. „Ich habe schweren Herzens eingesehen, dass es zu gefährlich ist. Aber es war ein Stück Freiheit, das ich aufgeben musste“, bedauert sie. Da ist es wieder, das Wort „Freiheit“.
„Freiheit bedeutet für mich vor allem, mich ungezwungen bewegen zu können – am Strand zum Beispiel. Wenn ich auf der einen Seite das Meer habe und den Sand unter den Füßen spüre, lasse ich den Blindenstock in der Tasche“, erzählt sie strahlend. „Das ist eine schöne Sache, fordert mich aber auch heraus.“ Aber egal, ob sie – so wie am Strand in Australien – nicht gleich zurückfindet oder auf dem Tennisplatz am Ball vorbei schlägt: „Meine Frustrationsgrenze ist relativ hoch.
Ich probiere es einfach immer wieder, bis es klappt.“ Eine Einstellung, die ihr auch im Beruf und im Privatleben hilft. „Da bekommt man auch nicht immer alles so, wie man es haben möchte. Es gibt immer gute und schlechte Tage.“ Damit vor allem im Sport die guten Tage noch zahlreicher werden und sich damit weitere Erfolge einstellen, trainiert Kirstin bis zu vier Mal pro Woche beharrlich auf ihre Ziele hin. Einmal ein Turnier zu gewinnen, gehört ebenso dazu, wie 2023 an den Weltmeisterschaften teilzunehmen.
Einer ihrer größten Wünsche ist allerdings, einmal im Rahmen der Hamburg Open ein Blindentennisturnier zu spielen. Mit ein Grund, warum sie sich für diese spannende Sportart einsetzt.
Heike Werner